Neue Verwaltungszentrale und neue Wohnstätte auf Zeit für Jugendliche mit familiären Problemen: Die Jugendhilfeeinrichtung in Hildrizhausen hat einen 2,4 Millionen Euro teuren Neubau hochgezogen und inzwischen alle drei Etagen in Beschlag genommen.
Kreiszeitung Böblinger Bote, Artikel vom 16. Oktober 2020
Von Martin Müller

HILDRIZHAUSEN. Mit rund 200 Angestellten hat sich die gemeinnützige Jugendhilfe Waldhaus mittlerweile, im Jahr 63 ihres Bestehens, zu Hildrizhausens größtem Arbeitgeber gemausert. Jetzt ist dort, auf dem Gelände am Schönbuchrand, ein weiterer Baukörper hochgezogen worden. Im Grunde genommen handelt es sich dabei um nichts Geringeres als das neue Herzstück der Einrichtung, das in zwei Jahren Bauzeit in die Mitte des 1,2 Hektar großen Areals hineingepflanzt wurde.
Auf 1,8 Millionen Euro werden sich voraussichtlich die Kosten für das so genannte „Haus Nummer 7“ addieren, einen drei Stockwerke hohen Baukörper mit diversen Balkonen und markanter Fassadenverkleidung aus Lärchenholzlatten. Hinzu kommen nochmal rund 600 000 Euro für die Außenanlagen und die Infrastruktur der Versorgungsleitungen: 2,4 Millionen in Summe, die sich in Anbetracht des erzielten Ergebnisses zu guter Letzt aber als erstaunlich preiswert erweisen.
Das neue Herz setzt Energien frei auf mehreren Ebenen
Die zentrale Funktion, die der Neubau erfüllt, spielt sich auf mehreren Ebenen ab. Erstens ist der komplette Zugangsbereich in die Jugendhilfe-Einrichtung neu gestaltet worden. Mit 37 neu vorgelagerten Parkplätzen öffnet sich dieser Zugang nun von Norden her – mit direktem Blick aufs Dorf. Was auch ganz symbolträchtig dafür steht, dass das früher kritisch beäugte Waldhaus heute mitten in der (Dorf-)Gesellschaft angekommen ist. Berührungsängste wurden abgebaut – schließlich hat man es hier unter anderen auch mit straffällig gewordenen Jugendlichen zu tun, die für die Wiedereingliederung in die Gesellschaft stark gemacht werden. „Vor 30 Jahren sind wir immer runter ins Dorf, um das Dorffest und den Weihnachtsmarkt mitzugestalten – heute kommen die Leute zu uns“, bringt es Waldhaus-Geschäftsführer Hans Artschwager auf den Punkt. Untermauert wird diese Tatsache der gelungenen Integration auch durch das 2013 errichtete, öffentlich zugängliche „Café Fuchsbau“ auf dem Gelände der Jugendhilfeeinrichtung, das gut angenommen wird.
Genauso wichtig: Vor dem Neubau selbst öffnet sich jetzt ein echter Campus: ein schöner, offen gestalteter Festplatz, der mit Sitzgruppen, Pflanzrabatten und im Sommer auch mit Sonnensegeln oder einem schnell aufzustellenden Festzelt Qualitäten eines echten Treffpunkts hat und zur Bühne für Veranstaltungen taugt. „Arbeiten, Leben, Wohnen: Alles wurde atmosphärisch aufgewertet“, freut sich Artschwager. Viele Elemente dieses Hofs wie die Stahl-Einfassungen wurden in Eigenleistungen durch die hauseigene Werkstatt angefertigt. Auch eine Wasser- und eine Stromsäule kann hier angezapft werden. Dies wiederum hat damit zu tun, dass im Untergrund die komplette Versorgung für das gesamte Areal – Elektrik, Strom, EDV, Wasser-, und Heizungsrohre vom eigenen Holzhackschnitzelwerk – neu verlegt wurde. Für den Glasfaseranschluss ist ebenfalls schon alles vorbereitet – nur die Telekom lässt zu Artschwagers Ärger „seit Monaten“ auf sich warten. Auch Zisternen mit 30 000 Litern Grauwasser und 40 000 Litern Löschwasser hat der Untergrund verschluckt.
Die dritte zentrale Funktion erschließt sich, sobald das Gebäude von der Südseite her betreten wird, die sich zum Campus hin öffnet. Hier schlägt das Herz der neuen Waldhaus-Verwaltungszentrale. Büroräume für den Familien- und Jugendhilfeverband, für Mitarbeiter der stationären Wohngruppen, für die Öffentlichkeitsarbeit und für die Jugendberufshilfe sind hier ebenso untergebracht wie diverse größere und kleinere Team-Besprechungszimmer, die es nun auch ermöglichen, Kolleginnen und Kollegen aus dem ganzen Landkreis auf dem Stammgelände zu begrüßen. „In der Flüchtlingskrise haben wir 90 neue Arbeitsplätze aufgebaut und sind wie die Ölsardinen aufeinander gehockt“, betont Artschwager. „Jetzt haben wir endlich die Möglichkeit, unseren Mitarbeitern adäquate Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen.“
Auffangstelle für Jungs, die von der Familie verstoßen wurden
Das Haus Nummer 7 hat aber auch noch einen zweiten, separaten Eingang von Westen her. Hier geht es übers Treppenhaus hinauf in die beiden darüber liegenden Stockwerke. „ION“ steht an der Eingangstüre – das Kürzel für die neue „Inobhutnahme-Wohngruppe“. Hier werden nach Einweisung des Jugendamts Jungs im Alter von zwölf bis 17 Jahren aufgenommen, die kein Zuhause haben, die herumstreunen, verwahrlosen oder im Elternhaus Gewalt ausgesetzt und traumatisiert sind. Nicht nur aus dem Landkreis Böblingen, auch aus den Kreisen Calw, Ludwigsburg und Vaihingen/Enz werden sie von der Polizei hierher gebracht. Bis zu 70 Tage lang können sie im ION ihr Übergangsquartier beziehen. Tagsüber sind sie aber kaum anzutreffen, da sie weiterhin ihrem geregelten (Schul-)Alltag nachgehen sollen. Und selbstverständlich werden die Jungs vom Waldhaus sozialpädagogisch betreut. „Wir versuchen die Krise zu minimieren“, sagt Artschwagers Stellvertreter Michael Weinmann. Dazu gehört auch, dass Gespräche mit dem Jugendamt und – sofern möglich – mit den Eltern geführt werden. Danach entscheidet sich, ob das Wagnis eingegangen werden kann, die Teenager in ihre Familien zurückzuführen oder ob sie eine weitergehende Betreuung in ambulanten oder stationären Wohngruppen brauchen.
Mitsamt Küche und einem großen Esstisch sind hier in sechs Einzelzimmern Unterkunftsplätze für maximal neun Jugendliche in Not geschaffen worden. Drei der Zimmer besitzen ein ausklappbares Hochbett – sie lassen sich für alle Notfälle im Handumdrehen zum Doppelzimmer umgestalten. Und immer teilen sich die Bewohner zweier Zimmer eine Dusche und ein WC. Sechs Vollzeitkräfte sorgen im Drei-Schicht-Betrieb für eine permanente sozialpädagogische Betreuung der Bewohner. Für sie gibt es auch ein Büro mit Übernachtungsplatz. „Die Betreuung muss 365 Tage im Jahr und 24 Stunden am Tag funktionieren“, erläutert Weinmann, der für alle Wohngruppen im Waldhaus verantwortlich ist.
Und dann ist da zu guter Letzt noch das Stockwerk Numero 3 in Haus Nummer 7: Die vier Appartements dort stehen übergangsweise nicht nur Mitarbeitern des Waldhauses zur Verfügung, sondern auch Jugendlichen, die sich verselbständigen und auf dem Absprung zurück in die Gesellschaft sind – aber auf dem Wohnungsmarkt keine bezahlbare Bleibe finden. „Der Wohnungsmarkt draußen ist eine Katastrophe“, sagt Hans Artschwager.