Freudentränen nach dem Zirkus
Seit dem 8. März sind in der Polizeihochschule in Böblingen 73 Kinder und Jugendliche aus zwei Heimen in der Ukraine untergebracht. Viele Kräfte wirken zusammen, um ihnen einen abwechslungsreichen Alltag zu bieten. Das lässt sie trotz ihres Schicksals strahlen.
Kreiszeitung Böblinger Bote, 14. April 2022 von Jan-Philipp Schlecht

Das Mittagessen gibt es in der Polizei-Kantine. Daher ist vor Gebäude 41a in der Böblinger Wildermuth-Kaserne am Mittwochmittag ausnahmsweise mal Ruhe eingekehrt. In den Gebäuden ist sonst das Institut für Fortbildung der Polizei heimisch. Doch der Fuhrpark aus Kinderfahrrädern lässt darauf schließen, dass hier gerade keine Fortbildung für Kriminaltechniker stattfindet, sondern Haus und Hof umfunktioniert wurden. Seit dem 8. März sind hier 73 geflüchtete Kinder und Jugendliche aus zwei Kinderheimen in der Ukraine untergebracht.
Die Kinder kommen aus zwei Heimen in der Nähe von Kiew. Ein Teil von ihnen sind Waisenkinder, andere kommen aus schwierigen familiären Verhältnissen. Von den 32 Mädchen und 41 Jungen sind 17 jünger als sechs Jahre, 37 zwischen sechs und zwölf und 19 im Teenager-Alter. „Der älteste hat am Dienstag seinen 18. Geburtstag gefeiert“, sagt Jugendamtsleiter Wolfgang Trede. Der jüngste sei bei seiner Ankunft noch keine vier gewesen. Es sei den ukrainischen Behörden wichtig gewesen, dass die Kinder zusammenbleiben könnten. „Die Flucht war eine große psychische Belastung, das hat man ihnen deutlich angemerkt“, sagt Trede.
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An einem Dienstagmorgen kam der Bus mit den Kindern an. Erst am Wochenende davor wurde der Trakt in Windeseile von Polizeischülern hergerichtet und mit Feldbetten bestückt. „Für uns ist das ein humanitärer Akt“, sagt Polizeidirektor Jürgen von Massenbach-Bardt, der das Institut leitet. Inzwischen erklärte sich auch das Innenministerium einverstanden, dass die Kinder für sechs Monate in Böblingen bleiben dürfen, was anfangs nicht ganz klar war.
Die Kinder scheinen darüber glücklich: Als die Meute vom Mittagessen zurückkommt, strahlt einer der Jungen den Polizeidirektor an, sagt artig „Hallo!“ und klatscht mit der Hand ab. Dann schnappt er sich ein Fahrrad und düst los. „Am Nachmittag dürfen die Kinder natürlich draußen spielen“, sagt Lisa Artschwager vom Waldhaus Hildrizhausen, das die gesamte Betreuung der Kinder federführend organisiert.
Zusätzlich zu den vier ukrainischen Betreuerinnen, die auf der Flucht mitgekommen sind, gibt es mittlerweile noch zwölf hauptamtliche Kräfte vom Waldhaus und aus dem Jugendamt, die den Tagesablauf für die Kinder bewerkstelligen. „Und dazu noch mal so viele Dolmetscher und weitere 150 Ehrenamtliche, die ebenfalls koordiniert werden wollen“, sagt Artschwager. Mit vereinten Kräften wurde aus den drei Stockwerken in dem Polizeigebäude im Handumdrehen ein Kinderheim. Berührungsängste zwischen Ordnungshütern und Neu-Ankömmlingen gebe es nicht, im Gegenteil. „Neulich ist hier der Polizeihubschrauber gelandet, den durften sie natürlich anschauen“, sagt Massenbach-Bardt. Und die hier stationierte Bundespolizei habe vor Kurzem für alle ein Eis spendiert.
Batiken, Basteln und Online-Unterricht
Im Eingang von Gebäude 41 hängt die aktuelle Gruppeneinteilung an der Pinnwand, daneben die Spielangebote. Vormittags können die Kinder Batiken, Basteln oder Freundschaftsbänder knüpfen. Montags um 17 Uhr gibt es eine Fußballgruppe, mittwochs um 16 Uhr eine für Theater. So erhalten die Kinder einen geregelten Alltag, weit weg vom Krieg in ihrer Heimat. Außerdem konnte man jüngst zwölf Laptops organisieren, sodass die älteren am Online-Unterricht in der Ukraine teilnehmen können. Auch Deutsch soll spielerisch gelernt werden.
Unter den Bewohnern ist die 14-jährige Viktoria. Am vergangenen Samstag hatte sie einen großen Auftritt im Europasaal der Böblinger Kongresshalle. Auf dem Konzert des Landespolizeiorchesters sang sie gemeinsam mit drei anderen Heimkindern als Zugabe die ukrainische Nationalhymne, was das Publikum von den Sitzen aufstehen ließ.
„Das war ein Gänsehaut-Moment“, sagt Jürgen von Massenbach-Bardt. Auch für Viktoria: „Ich war wirklich aufgeregt.“ Neben dem Singen malt sie gern und strahlt über beide Ohren, als sie vom Alltag in Böblingen erzählt. Es gefalle ihr „sehr gut“ hier. Ihre Freundin Anja (15) wusste vor ihrer Flucht über Deutschland nur, „dass die Menschen dort nett und pünktlich sind.“ Der Eindruck habe sich bestätigt, sagt sie und lacht.
Eine wichtige Bezugsperson für die Kinder ist auch Harry Sommer, im Hauptberuf Jugendreferent in Altdorf und Hildrizhausen. Er organisiert Erlebnisse außerhalb der Unterbringung bei der Polizei. „Mir ist es wichtig, die Kinder auch mal aus dem Alltag wegzubringen. Wir waren schon in einem Flugsimulator und auf der Jugendfarm“, sagt er. Der bisherige Höhepunkt sei aber ein Besuch im Zirkus gewesen: „Manche haben danach geweint vor Freude. Sie haben noch nie in ihrem Leben einen Zirkus gesehen.“ Voll des Lobes ist er auch über das Engagement der Sportvereinigung Böblingen, die Sportangebote in der Kaserne schafft.
Fahrräder wären große Hilfe
Überhaupt sei die Welle der Hilfsbereitschaft enorm, sagt Waldhaus-Geschäftsführer Hans Artschwager . „Allerdings brauchen die Polizeischüler ihre Sitzgarnituren auf der Wiese zurück, da besteht Bedarf.“ Auch über ausgemusterte, aber gut erhaltene Fahrräder oder andere Fortbewegungsmittel würden sich seine Schützlinge sicher freuen, sagt er.
Unterstützung für Heimkinder in der Polizeihochschule
Die Betreuung
der Heimkinder in der Polizei-Hochschule obliegt dem Waldhaus Hildrizhausen, das Landratsamt unterstützt je nach Bedarf mit Personal und Sachleistungen.
Die Hilfsbereitschaft
in der Bevölkerung sei enorm, sagen die Verantwortlichen. Aktuell gebe es aber nur noch spezifischen Bedarf an Sachspenden: So würden Sitzgarnituren für den Außenbereich benötigt sowie gut erhaltende Kinder- und Jugendfahrräder.
Geldspenden
sind jedoch nach wie vor willkommen. Sie können direkt ans Waldhaus fließen auf ein Konto bei der Sozialbank Stuttgart, IBAN: DE38 6012 0500 0007 7831 00 mit dem Verwendungszweck „Ukrainische Kindergruppe Böblingen“ und der Adresse der jeweiligen Spender.
Die Ukraine-Hotline
im Kreis hilft werktags von 9 bis 12 und donnerstags von 14 bis 18 Uhr unter 0 70 31 / 6 63 38 38 weiter.