Die aktuelle Ausgabe von PARITÄTinform hat das Schwerpunktthema „Was geht in der Jugendhilfe? – Herausforderungen und Neue Wege“.
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VON DER ODYSSEE ZUM FESTEN BODEN
Systemherausforderer – Kinder, die durchs Raster gefallen sind
TAUBERBISCHOSHEIM/HILDRIZHAUSEN Die einen nennen sie Systemsprenger, die an- deren Systemherausforderer: Kinder und Jugendliche, denen übliche Hilfestrukturen nicht gerecht werden können, brauchen Stabilität, wie zwei Beispiele zeigen.
Das Bettgestell lehnt an der Wand, Kleidung und Papier verteilen sich auf dem Boden, dicht überzogen von einer Schicht weißer
Flocken: Spuren eines Tobsuchtsanfalls, Maik* hat sein Zim- mer zerlegt. „Eines der größten Probleme der Kinder ist: Sie können kaum Gefühle abpuffern“, so Jan Volmer vom Fachdienst der Jugendhilfe Creglingen. „Wenn sie wütend sind, gehen sie ihren heftigen Impulsen nach. Sie haben nie gelernt, sich selbst zu beruhigen und zu trösten.“ Er spricht von einer der Wohngruppen der Jugendhilfe Creglingen.
Ein sicherer Ort in unsicheren Zeiten
Maik* lebt in einer Stabilisierungsgruppe in Tauberbischofs- heim. Sie bietet sieben Plätze für acht- bis zwölfjährige Jungs mit sozialen und emotionalen Problemen aus dem Spektrum kinder- und jugendpsychiatrischer Erkrankungen. „Wir wollen einen sicheren Ort in unsicheren Zeiten bieten, die Kinder sind schwerst traumatisiert. Es geht darum, ihre psychischen Belastungen zu reduzieren, sie brauchen wie- der festen Boden unter den Füßen“, so Volmer. Neben seiner Fachdiensttätigkeit leitet er das Main-Tauber-Institut, Fort- und Weiterbildungseinrichtung der Jugendhilfe Creglingen. Er weiß um die Odyssee mancher Kinder von Jugendhilfe- einrichtungen zu Pflegeeltern und zurück. „Ein Junge war in 15 Monaten an 20 Plätzen. Hier ist für viele Kinder die letzte Chance vor einer geschlossenen Einrichtung, manche haben dort schon Erfahrungen gemacht.“
Prosoziales Verhalten anstoßen
Ein sicherer Ort meint aber nicht nur Ruhe, sondern auch eine Umgebung, die lebendig genug ist, um „heilsame Ent- wicklungsprozesse anzuregen“. Entsprechend sind die Räu- me im Neubau, der in frischen Farben gehalten ist, in Ein- zelzimmer sowie Funktions- und Wohlfühlräume gegliedert. Am großen Tisch wird gemeinsam gegessen, im Garten gespielt, in einem gedämmten Raum auf dem Schlagzeug geübt – oder abreagiert. „Maximal zwei Jahre können die Jungs hier bleiben“, beschreibt der Systemische Therapeut und Traumapädagoge.
In dieser Zeit versucht ein sechsköpfiges multiprofessionelles Team aus Therapeut*innen und Pädagog*innen deren ge- fährdete oder blockierte emotionale und soziale Entwicklung in Gang zu setzen sowie empathische Prozesse, die „Basis von prosozialem Verhalten“, anzustoßen. Kein einfaches Un- terfangen sind die Kinder doch Ablehnung und Gewalt ge- wohnt und haben meist nie richtige Bindungen erlebt. „Sie erwarten harte Bestrafungen für negatives Verhalten, aber eine Erziehung zu reiner Anpassung und striktem Gehorsam lehnen wir ab.“ Wenn einer Regeln verletze, die es freilich geben müsse, werde reagiert mit Augenmaß, Gesprächen, je nach Sachlage auch mit Wiedergutmachungen im Sinne eines Täter-Opfer-Ausgleichs. Es sei eine Sternstunde, so Volmer, wenn einer sage, „Ich bin traurig oder wütend – das bedeutet, da bewegt sich was. Das Kind „funktioniert“ nicht nur, sondern reflektiert seine Gefühle.“
Mehr Ethik im Sozialsystem
Ein traumapädagogischer Ansatz, der vom Team viel Ge- duld, Klarheit und Warmherzigkeit fordert. Und vom Sozi- alhilfesystem viel Ethik – im Gegenzug zum neoliberalen Diktat der Durchökonomisierung, betont Volmer. „Da würde ich mir eine andere Politik wünschen – und einen mehr po- litisch agierenden sozialen Sektor.“ Ganz nach dem Motto des Hauses: „Was du nicht willst, was man dir tut, das füge auch keinem anderen zu.“
Jugendliche, die durchs Raster gefallen sind
Einen etwas anderen Ansatz verfolgt man in der Jugend- hilfeeinrichtung Waldhaus in Hildrizhausen. „Wir sehen die Folgen von Neoliberalismus, Konsum- und Konkurrenzden- ken, Endsolidarisierung, Individualisierung, aufgehender Schere zwischen Arm und Reich und einer nicht gelunge- nen Kooperation zwischen den Helfersystemen.“ Michael Weinmann analysiert gesellschaftliche Verhältnisse. Seit 40 Jahren ist der Erziehungswissenschaftler in der Jugendhilfe tätig, fast genauso lange leitet er den Bereich „Stationäre er- zieherische Hilfen“ des Waldhauses in Hildrizhausen. Ein Ort der Pionierarbeit: Einst Beobachtungsheim für straffällige Jugendliche des Bewährungshilfevereins Stuttgart gründe- te Hans Artschwager 1957 die Jungenheim
Waldhaus GmbH. Sein Ziel: Jugendliche sollten arbeiten, eine Ausbildung machen, Sport treiben.
Heute besteht das idyllisch gelegene Waldhaus aus mehreren Häusern. Dort finden auffällig gewordene Kinder und Jugendliche eine Heimat auf Zeit, in der Intensiv-Wohn gruppe, in Regel- oder Außenwohngruppen. Sie sollen lernen, selbstbestimmt, verantwortungsbewusst zu leben. Für manche die letzte Chance vor dem Gefängnis: Die Intensivgruppe mit acht Plätzen für männliche Jugendliche ab 14 Jahren ist Alternative zu freiheitsentziehenden Maßnahmen. 250 Anfragen bekommt Weinmann im Jahr. „Zu uns kommen jene Kinder und Jugendlichen, die durch alle Raster fallen, bei denen die Jugendämter nicht mehr wissen wohin.“ Systemsprenger? Der Begriff gefällt ihm nicht. „Systemherausforderer! Sie haben Aggressionspotenzial, Schwierigkeiten Affekte zu kontrol- lieren, kaum Frustrationstoleranz.“ Den normalen Alltag zu meistern, das versuchen die acht Mitarbeiter im Intensivbe- reich den Jugendlichen zu vermitteln, mit Beziehungsarbeit und Konfrontationspädagogik, Sanktionen und Belohnung. „Wir fordern Regeln und Tagesstruktur ein. Das ist keiner gewohnt.“
uch Ruben* war es nicht. Das Kind getrennter Eltern lebte auf der Straße, nachdem ihn seine Mutter vor die Tür ge- setzt hatte. Er erlebte Sucht-, Beziehungs- und Bindungs- probleme, Gewalt, Schulabbruch, rutschte auf die schiefe Bahn. „Falscher Umgang“, konstatiert der nun 18-Jährige. „Wir hingen am Bahnhof rum, dealten, man denkt, so geht es weiter.“ Eines Morgens indes ging er erst zu seinem Vater, dann zwei Monate später selbst zum Jugendamt und nahm eine Chance im Waldhaus wahr. Dort machte er in den ver- gangenen 18 Monaten seinen Werkrealschulabschluss, vi- siert das Fachabitur an, versteht sich wieder mit den Eltern.
Die Erziehungsberechtigten entlässt Weinmann nicht aus der Verantwortung. „Es gibt stets auf vielen Ebenen Gesprä- che“, sagt er. Ruben* ergänzt, dass es anfänglich hart gewe- sen sei. Nur zwei Mal pro Woche das Gelände verlassen, das Handy zunächst nicht, dann begrenzt nutzen. „Es gab ein Belohnungssystem, Wochen- und Freizeitpläne.“ Da spielt auch Sport eine große Rolle – und die Zusammenarbeit mit Psychotherapeuten und anderen Expert*innen. „Je besser man es hinkriegt, umso leichter wird es“, so Ruben*. Er lebt nun in einem „Ablösezimmer“ mit gelockerten Regeln.
Jeder hat Potenzial
„Es ist ein Spagat zwischen Beziehung und Grenzen setzen – es braucht Reflexionsfähigkeit“, erläutert Weinmann. „Jeder hat Potenzial.“ Das Herauszukitzeln ginge besser, wenn die Akteure des Systems von Jugendhilfe, Schule, Polizei bis zu den Therapeuten mehr voneinander wüssten. (MD)
*Namen wurden von der Redaktion geändert.
Kontakt:
Michael Weinmann
Bereichsleiter Stationäre erzieherische Hilfen,
Waldhaus Jugendhilfe gGmbH
weinmann@waldhaus-jugendhilfe.de
www.waldhaus-jugendhilfe.de

Chancen und Herausforderungen einer außergewöhnlichen Kooperation
LEONBERG Seit 1998 ist die Waldhaus Jugendhilfe gGmbH für die Mobile Jugendarbeit (MJA) in der Stadt Leonberg verantwortlich. Eine Besonderheit ist dabei, dass die Arbeit nicht nur im öffentlichen, sondern auch im halböffentlichen Raum stattfindet. Nachfolgend wird das Kooperationsangebot „Leo-Chillaction“ mit dem Shop- pingcenter Leo-Center in seiner Entstehung und Durchführung beschrieben. Dabei wird auf Ergebnisse der Stu- die „Jugendliche und die ,Räume‘ der Shoppingmalls“1 zurückgegriffen. Chancen und Herausforderungen dieser außergewöhnlichen Kooperation werden diskutiert.
Das Leo-Center in Leonberg besteht seit den 1970er-Jahren und fungiert als typische Einkaufsstraße für alle Altersgrup- pen. Ausgehend von den Beobachtungen der Mobilen Jugendarbeit stellt das Center besonders für Jugendliche einen Ort dar, an dem man nicht nur shoppen gehen, son- dern sich auch mit Freunden treffen und gemeinsam „chil- len“ kann. Diesem Phänomen ist Dr. Ulrich Deinet in seinem Buch „Jugendliche und die ‚Räume‘ der Shoppingmalls“ nachgegangen. Im Rahmen der Untersuchung berichteten 69 Prozent der befragten Jugendlichen aus Leonberg an, dass sie mehrmals pro Woche das Leo-Center aufsuchen.3Von den Befragten gaben 94 Prozent an, in den Nachmit- tagsstunden zwischen 14 und 18 Uhr im Center zu sein. 69 Prozent wiederum meinten, dass sie das Center häufig zum längeren Verweilen/Chillen nutzen.
ChillEcke mit Aktionen
Als Reaktion auf dieses Treffverhalten junger Menschen ist die Mobilen Jugendarbeit seit 2005 mit dem Angebot „Leo- Action“ und seit 2014 mit der Aktion „Leo-Chill“ vor Ort. Aufgrund der Vielzahl positiver Effekte und Erlebnisse, die die Angebote jeweils mit sich brachten, wurde die Koope- ration mit dem Leo-Center stetig weiterentwickelt und das Angebot ausgebaut: Seit 2019 werden beide Aktionen in dem kombinierten Angebot „Leo-Chillaction“ durchgeführt.
Die Aktion findet im zweiwöchigen Rhythmus mittwochnachmittags auf der Ladenstraße im Leo-Center statt. Dabei wird in Form eines Tep- pichs und Sitzsäcken eine Art „Chill-Ecke“ aufge- baut, während gleichzeitig eine Aktion angebo- ten wird, um für noch unbekannte Jugendliche einen Anreiz zum Verweilen zu schaffen.
Die Tatsache, dass der halböffentliche Raum des Leo-Centers eine wichtige Rolle in der Lebens- welt der jungen Menschen spielt, rechtfertigt be- reits teilweise die außergewöhnliche Kooperation mit dem Einkaufscenter. Dabei darf die Mobile Jugendarbeit ihr Profil nicht verlieren und gleichzeitig muss über einen Dialog ein passender Weg zur kon- struktiven Zusammenarbeit gefunden werden. So können sich für die Mobile Jugendarbeit neue Aktionsräume eröff- nen. Dies hat zur Folge, dass sie in Leonberg vielfältige Zugänge zu Jugendlichen in der Kernstadt gestalten kann und verlässlich über das ganze Kalenderjahr in der Lebenswelt präsent ist.
Dass die Jugendlichen die Aktionen im Center mittlerweile mit der Jugendarbeit positiv verbinden und auch die Kooperation mit der Centerleitung auf einer gegenseitig wohlwollenden Basis erfolgt, sprechen für eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Dies zeigt, dass Mobile Jugendarbeit offen für außergewöhnliche Kooperationen sein sollte und diese Offenheit zu einzigartigen Modellen lebensweltorientierten Arbeitens führen kann.
» Kontakt
Michael Groh
Bereichsleiter Kommunale Jugendarbeit
Waldhaus Jugendhilfe gGmbH
groh@waldhaus-jugendhilfe.de
www.waldhaus-jugendhilfe.de
