Seit Daniel Küblböck vor drei Wochen vom Luxus-Dampfer Aida Luna in den Atlantik sprang, wird in den sozialen Medien wieder heftig über das Thema Mobbing diskutiert. Schulsozialarbeiterin Anja Frasch verrät, wie sie dieser Problematik am Schönbuch Gymnasium und an der Realschule in Holzgerlingen entgegenwirkt.
Von Sandra Schumacher, Kreiszeitung Böblinger Bote, 02.10.2018
HOLZGERLINGEN. Früher oder später läuft er jedem im Verlaufe seines Schülerlebens über den Weg: dieser eine seltsame Kauz, der sich anders anzieht als die anderen, auf ulkige Weise redet, besserwisserisch alles und jeden verbessert und auf der Beliebtheitsskala der Klasse irgendwo zwischen null und minus zehn rangiert. Für ihn geht diese Rolle auch zumeist vollkommen in Ordnung, weil er sich durch schräge Outfits und sein spezielles Verhalten von den anderen abgrenzen möchte. Den typischen Außenseiter hat es immer schon gegeben und zumeist geht mit seinem Status auch die eine oder Hänselei einher. So lange niemand dabei Schaden nimmt, sind solche Situationen ein normaler Teil des (Schüler-)Lebens, der die Konfliktfähigkeit und die soziale Kompetenz schult.
In manchen Fällen wird aus dem Frotzeln aber auch bitterer Ernst: Dann nämlich, wenn die Situationen ausarten, aus einer kurzzeitigen Ärgerphase eine dauerhafte Anfeindung, wenn der Außenseiter zum Opfer alltäglicher Drangsalierung wird und der oder die Täter darauf aus sind, ihm einen psychischen oder physischen Schaden zuzufügen. Genau dann handelt es sich nicht mehr um bloße Hänseleien, sondern um Mobbing.
Anja Frasch ist Schulsozialarbeiterin am Holzgerlinger Schönbuchgymnasium und an der Realschule. Eine ihrer Aufgaben ist es, derartige Szenarien zu entschärfen. Oder besser noch, gar nicht erst entstehen zu lassen. Deshalb findet eine erste Präventionsmaßnahme bereits in den Jahrgangsstufen fünf oder sechs statt – je nach Zeitplanung des jeweiligen Klassenlehrers. Dabei lernen die Schüler in mindestens zwei Doppelstunden die Grundlagen des Mobbings kennen. „Wenn ein Kind beispielsweise nur ein paar Tage von den anderen geärgert wird und danach ist es wieder gut, ist das noch lange kein Mobbing“, erklärt die 30-Jährige. Das Wissen um die Funktionsweisen ermögliche es den Jugendlichen, eine derartige Situation schon im Ansatz zu erkennen und gegebenenfalls gar nicht erst ausarten zu lassen.
Kommt es trotzdem zu Mobbingfällen, greift eine andere Taktik, die den Titel „No blame approach“ (zu deutsch: Keine Schuld Ansatz) trägt. „Im akuten Fall wenden wir uns an die jeweilige Klasse und versuchen den Schülern im Gespräch klar zu machen, was sie da eigentlich tun“, erläutert Frasch. „Anschließend entwickeln die Schüler selbst Lösungsmöglichkeiten, die die Situation entschärfen. Beispielsweise fahren sie mit dem Opfer gemeinsam zur Schule, spielen in den Pausen wieder mit ihm zusammen oder schreiten ein, wenn die Täter auf ihr Opfer losgehen.“ Hauptadressaten bei diesem Gruppengespräch sind nicht die Täter selbst, die ihr Opfer per Definition absichtlich schädigen, sondern vielmehr die Mittäter und die bloßen Zuschauer. „In diesem Fall gilt immer das Prinzip ‚zugeschaut ist mitgemacht'“, betont Frasch. Weil bei der Problemlösung der gesamte Klassenverband beteiligt sei, sinke auch die Angstschwelle, selbst zum Ziel der Anfeindungen zu werden, wenn man sich mit dem Opfer solidarisiert.
Eltern sollten unter keinen Umständen selbst zum Hörer greifen
Die gemeinsam erarbeiteten Maßnahmen werden anschließend über einen Zeitraum von ein bis zwei Wochen getestet, bevor es ein Feedback-Gespräch gibt und die Ansätze gegebenenfalls nachjustiert werden. In der Folge überprüft Anja Frasch in regelmäßigen Abständen das Ergebnis. Auch mit dem Opfer bleibt sie in engem Kontakt, um sofort einschreiten zu können, sollte es wieder zu Mobbing-Angriffen kommen. „Frühzeitig einzugreifen ist besonders wichtig“, betont sie. Denn das Opfer könne im schlimmsten Fall dauerhafte psychische Schäden davontragen. Gleichzeitig zeigt Frasch den Geschädigten jene Punkte auf, an denen sie Tätern eine Angriffsfläche bieten. „Beispielsweise wenn sie häufig neunmalklug daherkommen, geradezu ausrasten, wenn sie geärgert werden oder wegen einer Beeinträchtigung häufiger im Sport fehlen als andere.“ Hier sei es wichtig, dem Opfer zu vermitteln, dass es selbst keine Schuld an den Anfeindungen gegen sich trage. „Häufig fragen sich die Jugendlichen ja, ob etwas mit ihnen nicht stimmt. Deshalb vertrauen sich die Opfer ja auch häufig niemandem an.“
Eltern rät sie daher, wachsam zu werden, wenn das Kind sich immer mehr in sich zurückzieht, nicht mehr auf Nachfragen über die Zeit in der Schule reagiert oder häufig versucht, die Schule zu meiden, beispielsweise Bauch- oder Kopfschmerzen als Ausrede vorschiebt, um daheim bleiben zu können. Sollten Eltern den Verdacht haben, dass ihr Kind gemobbt wird, sei es entscheidend, dass sie selbst nicht sofort eingreifen. „Wenn die Eltern des Opfers beispielsweise die Eltern des Täters kontaktieren, führt das dazu, dass die Situation für das Opfer noch viel schlimmer werden kann und dass die Fronten sich zusätzlich verhärten. Für uns Schulsozialarbeiter wird es dann schwierig, einen Ansatzpunkt zu finden, um den Konflikt zu lösen“, betont Frasch. Stattdessen solle bei Verdacht besser der zuständige Schulsozialarbeiter oder Lehrer kontaktiert werden, die als geschultes Personal dann die notwendigen Maßnahmen koordinieren können.
Die Erfahrungen, die Anja Frasch und das Team der Jugendhilfe Waldhaus in Hildrizhausen, die die Schulsozialarbeit im gesamten Kreis Böblingen koordiniert, mit diesem Ansatz gemacht haben, seien durchweg positiv. „Mir ist nicht bekannt, dass sich nach so einer Maßnahme Mobbingfälle in diesem Klassenverband mit dieser Konstellation von Opfern und Tätern wiederholen“, gibt Frasch zu Protokoll. Allerdings habe es schon Fälle gegeben, bei denen die ehemaligen Opfer später selbst zu Tätern wurden. „Meistens passiert das aus der Angst heraus, dass ihnen dasselbe noch einmal passieren könnte.“
Ob die Zahl an Mobbing-Vorfällen im Vergleich zu früher steigt, sei schwierig zu beurteilen, meint Anja Frasch. Dennoch beobachtet sie, dass die heutige Schülergeneration sich verändert habe und dadurch eventuell ein neuer Nährboden für Mobbing entsteht. Zum einen führe der Wegfall der Grundschulempfehlung dazu, dass die Schülerschaft deutlich heterogener ausfalle, dementsprechend auch einige Jugendliche auf einer Schule angemeldet werden, deren Leistungsniveau sie überfordere. „Wenn diese Schüler keine Erfolgserlebnisse verzeichnen, kann das zu einer starken Frustration und Neid gegenüber denjenigen führen, die gut in der Schule sind.“ Eine mögliche Voraussetzung dafür, dass sie zu Mobbern werden könnten. Genauso gut könne es sich aber auch andersherum verhalten, wenn die Misserfolge zu alternativen Verhaltensweisen führen, die potentiellen Mobbern eine Angriffsfläche bieten.
Zum anderen führten die immer höher werdenden Erwartungen unserer Leistungsgesellschaft dazu, dass von den Eltern verordnete individuelle Fördermaßnahmen, sowohl im schulischen Kontext als auch bei Freizeitangeboten im Bereich Sport und Musik, einen Großteil des Lebens der Kinder bestimmten. „Die Kids haben heute teilweise eine 40-Stunden-Woche. Daher haben sie gar keine Zeit mehr, neben all diesen Aktivitäten raus zu gehen und einfach miteinander zu spielen. Das überlädt sie einfach“, erklärt Frasch. Die Folge: Eine höhere Stressbelastung und eine höheres Vorkommen von Konflikten in der Schule, weil die Kinder den Großteil des Tages miteinander verbringen. Schon in jungen Jahren würden die Kinder durch die individuellen Maßnahmen zu kleinen Persönlichkeiten, die den Zusammenhalt mit anderen nicht mehr in dem Maße lernen wie beispielsweise noch vor 15 Jahren. „Das Gemeinsame mit anderen und die Freiheit zur persönlichen Entfaltung gehen verloren, weil die Kinder immer früher in diese starren Strukturen gepresst werden. Stattdessen lernen sie, nur noch nach sich selbst zu schauen.“
Auch die Eltern gerieten heutzutage immer mehr unter Druck: „Für sie ist es ebenfalls schwierig sich gegen diesen Trend zu stellen und zu sagen, dass ihr Kind eben weniger außerschulische Angebote wahrnimmt, als seine Schulkameraden und Freunde.“ Wie die Zukunft für ihre Schützlinge aussieht, kann Anja Frasch freilich nicht voraussagen. Allerdings hat sie festgestellt, dass viele von ihnen dankbar ihre Hilfe in Anspruch nehmen oder gar einen Psychologen aufsuchen müssen.
Das Thema „Mobbing“ ist allgegenwärtig, aber niemand weiß, worum es sich genau handelt. Michael Groh, Bereichsleiter für Kommunale Jugendarbeit bei der Jugendhilfe Waldhaus in Hildrizhausen, erklärt, was es damit auf sich hat.
Herr Groh, was ist „Mobbing“ genau?
Mobbing ist ein wiederholtes, zielgerichtetes Schädigen einzelner Personen oder kleiner Gruppen. Natürlich kommt beim menschlichen Zusammenleben zu Konflikten, manchmal auch zu Gewalt. Das ist der Normalzustand, dann muss man sich miteinander arrangieren – das ist soziale Kompetenz. Beim Mobbing wird das Opfer aber unverschuldet zu einer Zielscheibe, an der sich die Täter immer wieder abarbeiten.
Wie äußert sich das konkret?
Es gibt unterschiedliche Stärkegrade. Am Anfang stehen meist Hänseleien, es werden auch Verhaltensweisen oder Ticks karikiert, aufgeblasen und ins Lächerliche gezogen. Meistens entsteht Mobbing aus einem Fremdheitserlebnis heraus. Der klassische Opfertyp kann sehr still sein oder einen ungewöhnlichen Kleidungsstil haben. Das führt nicht automatisch zu Mobbing. Es kommt auf die Person und die Rituale in der Gruppe an.
Wie geht es dann weiter?
Das Opfer wird isoliert, beispielsweise aus Whatsapp-Gruppen ausgeschlossen, ihm werden Infos vorenthalten, die allen anderen zugänglich sind. Die Täter wollen das Opfer niederdrücken, um selbst stärker zu wirken. Beim Mobbing geht es immer um Macht und darum, diese zu demonstrieren.
Gibt es einen klassischen Tätertypen?
Verallgemeinerungen sind schwer. Meist haben die Täter ein Selbstwertproblem, deswegen geht es oft um die eigene Aufwertung. Dafür brauchen Mobber eine Plattform, auf der sie sich darstellen, und die sie sonst nicht bekommen. Am wahrscheinlichsten ist die dominierende männliche Gruppe, die die Norm in der Klasse definiert, auch die Mobbergruppe.
Sind Mobber also eher männlich?
Nein. Im Gegensatz zu Kriminalstatistiken, in denen junge Männer immer in der Mehrzahl sind, wird Mobbing genauso häufig von Mädchen oder Frauen vollzogen.
Welche Konsequenzen hat das Mobbing?
Für das Opfer die Situation dramatisch, es wird systematisch isoliert, gedemütigt und ausgeschlossen. Das kann zu Traumata, psychischen Störungen, sozialem Rückzug, sozialphobischen Zuständen oder suizidalen Tendenzen führen. Gerade wenn es in der Jugend geschieht, in der Phase, in der wir unsere Identität bilden. Wenn wir dann ausschließlich Misserfolge bei sozialen Beziehungen erleben, kann es dazu kommen, dass wir keine Beziehungskompetenz entwickeln oder beziehungsunfähig werden.
Viele Mobbing-Opfer ziehen sich zurück, anstatt Hilfe zu suchen. Woran liegt das?
Sie haben Angst, dass alles schlimmer wird, sobald sie etwas sagen. Wichtig ist, dass bei einem akuten Fall keine Schnellschüsse passieren, sondern ein koordiniertes Vorgehen durch ein ausgebildetes Team erfolgt.
Welche Strategie verfolgen Sie dann?
Absolute Priorität hat der Opferschutz. Dann wenden wir uns in Absprache mit dem Opfer an die Klasse, bilden Unterstützergruppen und versuchen, eine Kultur des Hinschauens zu etablieren.
Was meinen Sie damit?
In unserer Gesellschaft sehen die Menschen häufig das Problem, schauen aber lieber weg, getreu dem Motto „es wird schon gut gehen“. Wir versuchen die Schüler aber dazu zu bringen, das Opfer aktiv zu unterstützen. Im Anschluss arbeiten wir mit dem Opfer gemeinsam die Erlebnisse auf.
Und die Täter?
Früher hat man mit ihnen auf moralischer Ebene argumentiert und wollte sie dazu bringen, sich in das Opfer hinein zu fühlen, damit sie aufhören. Beim Mobbing ist die Schädigung des Opfers aber gewollt und diese Methode greift nicht. Sie wollen das Opfer kaputt machen. Wenn aber der Rest der Klasse nicht mehr mitlacht oder sich gegen den Täter stellt, hört er von selbst auf.
Gerade von der älteren Generation hört man häufig Ausrufe wie „Stell dich nicht so an“. Wie stehen Sie dazu?
Natürlich hat es früher auch derartige Probleme gegeben, aber der Hinweis darauf macht es ja nicht besser. Auch früher haben die Menschen unter Mobbing gelitten und damals sind sicher einige Traumata entstanden, die zu nichts Gutem geführt haben.