Sozialpädagoge sieht psychische Probleme auf dem Vormarsch
Martin Dudenhöffer 22.05.2022
Schüler nach zwei Jahren Corona
Kinder und Jugendliche haben durch Schulschließungen und Shutdowns besonders stark unter den Folgen der Pandemie leiden müssen. Fachleute wie Michael Groh sehen sogar einen Anstieg psychischer Erkrankungen.

Schulschließungen, Homeschooling, gekappte Freizeitmöglichkeiten und Isolation – die vergangenen zwei Jahre Coronapandemie haben massiv in den Alltag aller Kinder und Jugendlichen eingegriffen. An vielen ist sind die Folgen der Pandemie nicht spurlos vorübergegangen. Auch wenn nahezu überall die Beschränkungen gefallen sind, leiden viele Kinder weiter unter sozialen Ängsten, psychischen Erkrankungen oder physischer Gewalt zuhause.
Michael Groh ist Diplom-Pädagoge und leitet den Bereich „Kommunale Jugendsozialarbeit“ beim Waldhaus in Hildrizhausen. Der Verein ist im gesamten Kreis Böblingen in unterschiedlichen Bereichen der Kinder- und Jugendarbeit tätig, unter anderem auch in Form von Schulsozialarbeitern an 28 Schulen. In ihrer Arbeit erhalten Groh und seine Kollegen tiefe Einblicke in das Seelenleben vieler Kinder und Jugendliche.
Zunahme von Ängsten und psychischen Störungen
„In den vergangenen Jahren haben wir einen Anstieg von Ängsten und Störungen sowie von depressiven Verstimmungen gesehen. Vor allem die Kinder und Jugendliche, die ohnehin sozioökonomisch benachteiligt waren, wurden durch die Pandemie weiter geschwächt“, schildert Michael Groh.
Viele Studien haben dies belegt: Junge Menschen, die nicht zu privilegierten Schichten gehören, fielen besonders hinten runter. „Corona hat bei bestehenden Missständen wie fehlender Teilhabe und Armut wie ein Brennglas gewirkt.“ Zudem hätten seine Kollegen und er einen Zuwachs an häuslicher Gewalt, Misshandlung und Kindeswohlgefährdung beobachten müssen.
Soziale Kompetenzen teilweise rückläufig
Auch Fälle, in denen Schüler eine soziale und emotionale Überforderung sowie Versagensängste spürten und darüber klagten, dem Schulstoff oder dem Leistungsdruck nicht mehr standhalten zu können, mehrten sich. Die Folge: Die Anzahl der Schulverweigerer, also derer, die wegen psychischer Schwierigkeiten nicht mehr in die Schule wollen, ging nach oben. Die sozialen Kompetenzen, in Gruppen entsprechend aufzutreten und Konflikte souverän und altersgerecht zu lösen, schwächten sich häufig ab.
Michael Groh erklärt diese Phänomene so: „Man muss bedenken, Kinder und Jugendliche befinden sich anders als Erwachsene in ständiger Entwicklung. Wenn sie aber herausgerissen werden aus dem Gewohnten, abgeschnitten von ihren sozialen Kontakten, auf die Familie beschränkt und mit Bedrohungen wie dem Virus konfrontiert sind, wirkt sich das stark auf das Wohl aus. Kinder und Jugendliche sind viel mehr vom Funktionieren der Grundstrukturen in ihrem Leben abhängig als Erwachsene.“
Medienworkshops sensibilisieren die Jugendlichen
Schulbesuche, Vereinsleben und Treffen mit „peer groups“, also Gleichaltrigen, wie sie alle Generationen vor ihnen ohne Einschränkungen kannten, waren plötzlich unmöglich. Der Schulunterricht, der Freizeitvertreib und das Pflegen sozialer Kontakte verlagerten sich auf das Digitale. Auch hieraus sind Problemfelder erwachsen, wie Groh berichtet: „Eine lange Mediennutzung birgt Gefahren. Kinder und Jugendliche haben teils ungeschützten Zugang zum Internet gehabt, darunter auch in nicht altersgemäße Bereiche.“ Hier steuerten Vereine wie das Waldhaus dagegen, beispielsweise in Form von Medienkompetenztrainings, die Kinder für Gefahren im Internet sensibilisieren und sie medial schulen. Diesbezüglich sieht Groh sogar Fortschritte: „Die Kompetenzen entwickeln sich durchaus positiv.“
Dennoch gebe es auch im Kreis immer wieder mal Vorfälle, in denen Jugendliche in sozialen Medien verführt werden, zum Beispiel zu dem Phänomen der sogenannten TikTok-Challenges. Dabei werden User gelegentlich aufgerufen, Mutproben zu leisten. Einige von ihnen sind hochgefährlich, so auch das Abfackeln von Schultoiletten. Im Sindelfinger Pfarrwiesengymnasium ist nach einem Schulfeuer der Verdacht aufgetaucht, ob hinter dem Brand eine solche TikTok-Challenge gelegen haben könnte.
Es gibt auch Grenzen der Jugendarbeit
Während die kommunale Jugendarbeit oder Schulsozialarbeit bei einigen Situationen noch entgegenwirken können, wird dies in anderen Fällen schwieriger. „In Schulen müssen unsere Sozialarbeiter viel öfter Einzelfallhilfe und Krisenintervention betreiben als vor der Pandemie“, berichtet Groh. In immer mehr Fällen müssen die Sozialpädagogen aber auch feststellen: Dies ist ein Fall für einen Psychologen oder Psychiater. „Leider können wir hier nur beraten oder auf Stellen verweisen. Die Wartelisten in Kinder- und Jugendpsychiatrien oder bei Therapeuten sind lange. Das ist für die betroffenen Familien eine Belastung“, sagt Groh.
Hier wie auch in der verbesserten Beteiligung junger Menschen in Entscheidungsprozesse sieht der Pädagoge, der seit 1999 als Bereichsleiter fungiert, die Politik gefordert. „Politik und Gesellschaft sollten Kinder und Jugendliche nicht nur als Schüler oder Azubis sehen, sondern differenziert als Menschen. Überall, wo es um die Lebensbereiche von jungen Menschen geht, muss man sie mehr einbeziehen. Das wollen die jungen Menschen auch“, ist Groh überzeugt.