Yousof Neisi arbeitet seit 2017 bei der Jugendhilfe Waldhaus in Hildrizhausen. Im September 2013 flüchtet der politisch Verfolgte mit seiner Familie aus dem Iran. Im Waldhaus fand er seine berufliche Heimat und erhielt gleichzeitig die Möglichkeit zu studieren.
Kreiszeitung Böblinger Bote, 09. Januar 2019, von Melissa Schaich
HILDRIZHAUSEN/ SINDELFINGEN. Yousof Neisi zieht den Schlüssel aus seiner Wohnungstür ab und lässt alles hinter sich. Zusammen mit Frau und Kindern flüchtet er 2013 aus dem Iran. Nun, etwas mehr als fünf Jahre danach, sitzt er an einem kalten Montagmorgen im Jugendberufshilfezentrum in Sindelfingen und erzählt von seiner Flucht. Nervös lässt er einen Stift zwischen seinen Fingern kreisen. Sein Blick fixiert die Tischplatte, während er von der Ankunft nach seiner Flucht in Karlsruhe berichtet, dann von der Zeit in einer Flüchtlingsunterkunft in Böblingen. Nun lebt er mit seiner Familie in Sindelfingen. Dort arbeitet er im Jugendberufshilfezentrum des Waldhauses, das seine Zentrale in Hildrizhausen hat. Seit den 50er Jahren hat sich das Waldhaus der Betreuung von Kindern und Jugendlichen verschrieben. Hier ist Neisi angekommen. „Ich bin ein Sindelfinger“, sagt er lächelnd.
Mit Mitte 30 zieht Neisi die Reißleine und setzt seiner politischen Verfolgung im Iran ein Ende. Er bricht alle Lager ab und verlässt das Land auf der Suche nach einer zweiten Chance. Für Nostalgie hat der 39-Jährige nicht viel übrig. Ob er etwas am Iran vermisst? Neisi antwortet mit einem kleinen Kopfschütteln: „Für uns war allein wichtig, dass wir leben.“ Nach der Ankunft in Böblingen baut Neisi Kontakt zu einer deutschen Familie auf. Diese unterstützte die Neuankömmlinge beim Erlernen der Sprache, aber auch beim Ausfüllen des bürokratischen Bergs an Formularen, der einen Asylantrag stets begleitet. Die drei folgenden Jahre wartet die Familie auf ihre Anhörung – der wichtigste Termin in einem Asylverfahren, das Bundesamt entscheidet über Verbleib oder Abschiebung. Die Fluchtgründe der Familie Neisi überzeugen. Der Bescheid fällt positiv aus.
Trotz der turbulenten Zeit haben sich die Neisis mittlerweile gut eingelebt. Klar gibt es ein paar Unterschiede in der Lebensweise, meint Yousof Neisi, doch die fallen nicht schwer ins Gewicht. Lachend erzählt er, dass er noch nicht ganz versteht, warum Menschen spät Abends, wenn niemand sonst unterwegs ist, an roten Ampeln stehen bleiben. Auch das Gratulieren zum Geburtstag läuft im Iran anders ab: Oftmals ist es kein Problem, schon eine Woche früher zu gratulieren. In Deutschland bringt so etwas Unglück. Yousof Neisi streckt die Hände vor sich aus und lässt sie abwägend auf- und absinken. „Für mich gibt es dabei kein Gut und Schlecht. Die Gepflogenheiten sind einfach nur verschieden.“ Für Neisi ist die Welt nicht in Stein gemeißelt. Kulturelle Unterschiede seien nicht starr und unverrückbar, sondern fließend. Seine Erfahrungen zeichnet er nicht in schwarz und weiß, sondern in Grautönen. Die Ungereimtheiten und Widersprüche eines jeden Lebens kommen in Neisis sorgfältig gewählten Formulierungen gut zum Ausdruck.
Als er im Iran lebt, hegt er den Traum, Regisseur zu werden. In dem Laden seines Vaters probiert er immer die neusten Kameramodelle aus. Bald merkt er jedoch, wie Wunsch und Wirklichkeit auseinanderfallen: „Die Aufgabe eines Regisseurs ist es doch, die Wahrheit zu sagen“, sagt er. Als er jedoch merkt, dass der Iran ihm diese Freiheit verwehrt, gibt er diesen Traum auf. Er findet Arbeit in der arabischen Botschaft, auch der Schauspielerei widmet er sich kurz. Der politische Druck auf ihn wächst, die Flucht ist unausweichlich.
Als Neisi im Januar 2016 in Deutschland noch keine Arbeitserlaubnis erhalten hat, beginnt er als Bufdi (Bundesfreiwilligendienst) im Waldhaus zu arbeiten. Dort beschäftigt er sich vor allem mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Im September 2017 folgt dann die Festanstellung. Nur zwei Monate später nimmt er den Studiengang „Soziale Arbeit“ auf.
Mit diesem berufsbegleitenden Studiengang, den das Waldhaus zusammen mit dem Paritätischen Landesverband ins Leben gerufen hat, soll sicher gestellt werden, dass Personal mit der passenden Arbeitserfahrung und dem nötigen Fachwissen ausgebildet wird. Für Neisi ist die Arbeitslast jedoch höher als gedacht: Nach einem Monat Studium ist er nahe daran aufzugeben. Arbeiten und nebenher studieren – und das in einer neu erlernten Sprache? Sehr zeitintensiv. Kaum zu stemmen. Zusammen mit seiner Familie hat er deshalb einen Zeitplan ausgearbeitet. Um fünf Uhr morgens startet er in den Tag, lernt bis halb acht, dann geht er zur Arbeit. Nach Feierabend versucht er nochmal ein bis zwei Stunden zu lernen. Die Wochenenden sind für die Familie reserviert. „Meine Familie unterstützt mich sehr, damit ich Studium und Arbeit vereinbaren kann“, meint Neisi.
Helfen und geholfen werden – das motiviert Neisi an seiner Tätigkeit im Waldhaus: Er hat am eigenen Leib erlebt, wie wichtig es ist, Hilfestellung in einer schwierigen Lage zu bekommen. Sein Job gibt ihm die Möglichkeit, die Hilfe, die er selbst erhalten hat, an andere weiterzugeben.
Im Moment arbeitet er mit Menschen mit Migrationshintergrund zwischen 16 und 35 Jahren zusammen. Er leitet sie dabei an, eine passende Arbeitsstelle zu finden und Bewerbungen zu schreiben. In einer Werkstatt oder beim gemeinsamen Kochen können die Migranten aber auch ihre kreative Energie ausleben. Wenn Yousof Neisi kocht, gibt es den allseits beliebten Kebab oder iranische Gerichte mit Hühnchen und Reis. Lachend erzählt er, dass er sich auch wieder im Filmen versucht hat. Mit einer Gruppe im Waldhaus hat er bereits einen kurzen Film gedreht, in dem er den Alltag der Gruppe aufnahm.
„Die Praxis lerne ich im Waldhaus“
„Mir gefällt besonders, dass ich im Studium die Theorie lerne und diese dann durch die Arbeit im Waldhaus direkt in die Praxis umsetzen kann“, berichtet Neisi. Die anfänglichen Schwierigkeiten im Studium hat er mittlerweile überwunden: „Mir ist es wichtig, viel dazulernen zu können. Je mehr ich lerne, desto besser kann ich arbeiten.“
Auch die Mitarbeiter im Waldhaus sind froh um Neisis Input. Abgesehen davon, dass der Iraner oftmals der Einzige ist, der die deutsche Grammatik erklären kann, ist Uwe Seitz, der Bereichsleiter des Jugendberufshilfezentrums, dankbar, wenn ihm Neisi in Beratungsgesprächen weiterhilft: „Manche Gespräche bringen die Menschen an emotionale Grenzen – dann hilft es, sich in der Muttersprache verständigen zu können.“ Neisi spricht fließend Arabisch und Persisch, hat Englisch in der Schule gelernt und kann nun auch mit Deutsch punkten – für Gespräche, in denen er eine vermittelnde Rolle einnimmt, ist er inzwischen unabdingbar.
Der Vorteil des Studiengangs „Soziale Arbeit“ liege darin, dass er auch Quereinsteigern wie Neisi ermöglicht einen sozialen Beruf zu erlernen. „Für uns ist es wichtig, Menschen, die bereits Berufserfahrung haben, für soziale Berufe zu begeistern“, meint Seitz. Wer also in fortgeschrittenem Alter noch einen Karrierewechsel machen will, bekommt mit dem Studiengang eine Chance dies auch zu verwirklichen.
Für Yousof Neisi hat der Studiengang eine neue Perspektive für die Zukunft eröffnet: „Die Arbeit im Waldhaus bereitet mir große Freude.“ Dass sich das Studium bei ihm aufgrund der sprachlichen Herausforderungen etwas länger zieht, ist dem Waldhaus-Personal nicht so wichtig. „Für uns kommt es darauf an, ausgebildete Fachkräfte wie Yousof Neisi zu halten.“
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