„Hier gibt es keine Gitter an den Fenstern“

Es ist ein unscheinbares Haus mit einem Vorgarten, in dem schon vieles blüht, mitten in Deckenpfronn, der kleinsten Gemeinde des Landkreis Böblingen. An der Haustür hängt ein Herz. Es ist friedlich hier an diesem sonnigen Junitag. Der Wind spielt mit den Grashalmen, Vögel zwitschern, und ein großer Baum wirft Schatten auf die Sitzplätze im Garten.

Kreiszeitung Böblinger Bote, Janina Link vom 22.06.2025

Stille – etwas, das Lea kaum kennt. Zuhause war es laut. Zu laut. Es wurde geschrien, Türen knallten, Dinge flogen gegen die Wände. Oft saß die 14-Jährige in ihrem Zimmer, die Hände fest auf die Ohren gepresst, das Herz hämmerte vor Angst. Sie hoffte, das Gebrüll würde aufhören. Doch es hörte nicht auf. Also ging sie. Hierher – in dieses Haus, in dem sie endlich mal wieder durchatmen konnte, in dem es endlich still war. Lea ist ein fiktives Mädchen. Und doch steht sie für viele, denen es ähnlich geht. Für Mädchen, die es zu Hause nicht mehr aushalten. Die wegmüssen.

„Manchmal wenden sich die Mädchen nachts an die Polizei“

In solchen Momenten sind Menschen wie Cordula Breining und ihre Kolleginnen von der Jugendhilfe Waldhaus zur Stelle. Seit Juni führen sie in Deckenpfronn eine Wohngruppe, die speziell für Mädchen zwischen 12 und 18 Jahren eingerichtet ist und diese in Krisensituationen auffangen soll. Ein siebenköpfiges Team aus Erzieherinnen und Sozialpädagoginnen betreut sie rund um die Uhr – Tag und Nacht ist mindestens eine Person vor Ort. Manchmal muss es schnell gehen. Besonders dann, wenn Gewalt im Spiel ist. Es kommt vor, dass mitten in der Nacht das Telefon klingelt – und innerhalb kürzester Zeit eine Schutzunterbringung organisiert werden muss.

 „Manchmal wenden sich die Mädchen nachts an die Polizei und sagen, ich kann nicht mehr nach Hause, ich wurde rausgeworfen, oder ich habe Angst nach Hause zu gehen, weil mir Schläge angedroht wurden“, nennt Breining Beispiele für solche Fälle. Die 40-Jährige – braune Haare, braune Augen und ein warmes Lächeln – strahlt eine gewisse Ruhe aus, wenn sie spricht. „Wenn die Mädchen bei uns ankommen, ist es erst einmal wichtig, ihnen klar zu machen, dass sie hier sicher sind, dass wir für sie da sind.“

Im Jahr 2024 wurden 61 Mädchen im Kreis in Obhut genommen

Im Obergeschoss des Hauses warten sechs Einzelzimmer auf die Bewohnerinnen. Sie sind mit Liebe zum Detail eingerichtet: Bettwäsche mit Blumenmustern, ein eigener Schreibtisch zum Lernen, bunt gestrichene Wände. Und in jedem Zimmer steht ein kleines Willkommenspaket mit dem Nötigsten für die ersten Tage. Und Schokolade. Bad, Küche und Wohnzimmer teilen sie sich, ganz wie in einer kleinen Wohngemeinschaft. Zusätzlich gibt es noch ein Notzimmer mit zwei Betten, etwa für ein Geschwisterpaar, das man nicht trennen möchte.

Schon zuvor wurde das Haus von der Waldhaus Jugendhilfe genutzt: Ein Stockwerk tiefer ist die Jugendwohngruppe „Eichenhof“ untergebracht. Entstanden ist die neue Inobhutnahme-Gruppe in enger Zusammenarbeit mit dem Jugendamt des Landkreises. „Allein im Jahr 2024 haben wir 61 Mädchen in Obhut genommen. Die durchschnittliche Verweildauer lag bei 50 Tagen. Da war schnell klar, dass wir weitere Kapazitäten brauchen“, so Jugendamtsleiter Harry Hennig in einer Pressemitteilung.

„Struktur gibt Sicherheit“

„Gründe für eine Inobhutnahme sind im Grunde so vielfältig wie das Leben selbst“, sagt Breining. „Es gibt auch die Fälle, in denen sich die Eltern ans Jugendamt wenden und sagen, wir kommen nicht mehr klar mit unserem Kind, wir wissen nicht mehr weiter. Oder ab und zu bringen wir auch unbegleitete minderjährige Geflüchtete bei uns unter, die keine Erziehungsberechtigten in Deutschland haben. Das kommt jetzt bei Mädchen nicht ganz so häufig vor wie bei Jungen, aber auch das passiert.“

Auch wenn die Mädchen kommen und gehen, mal nur drei, mal mehr Plätze belegt sind, versuchen die Mitarbeiterinnen in Deckenpfronn, ihnen Struktur im Alltag zu geben, denn, „Struktur gibt Sicherheit“, sagt Breining. Dazu gehören geregelte Essenszeiten, gemeinsame Besprechungen in der Gruppe, regelmäßiger Küchendienst oder Zimmerputzen sowie feste Ausgangs- und Bettzeiten – angepasst an Alter, Situation und Perspektive der Mädchen.

Nicht immer ist eine Rückkehr ins Elternhaus sinnvoll

Der Aufenthalt in einer Inobhutnahme-Gruppe ist meist auf wenige Tage oder Wochen begrenzt, kann sich aber auch länger hinziehen. In dieser Zeit prüft das Jugendamt mit allen Beteiligten, wie es weitergehen kann, ob eine Rückkehr nach Hause möglich ist oder eine längerfristige Lösung gefunden werden muss. In der sogenannten Clearing-Phase gibt es Besuche von und bei der Familie. Breining erklärt, dass es aber auch Fälle gibt, in denen mit dem Jugendamt vereinbart wird, dass kein Kontakt zum Elternhaus stattfindet. Das betrifft vor allem Situationen mit Gewalt oder Missbrauch. In solchen Fällen bleibt der Aufenthaltsort des Kindes unbekannt, um es zu schützen.

Manchmal wird deutlich, dass ein Zurück ins Elternhaus keine Option ist. Danach ist die nächste Station häufig die Unterbringung bei Verwandten, eine dauerhafte Wohngruppe oder eine Pflegefamilie. „Es sind aber nicht immer die schwerwiegenden Fälle von Gewalt oder Missbrauch“, betont Breining. „Manchmal schaffen Eltern es einfach nicht, die nötige Struktur zu geben. Oder Jugendliche akzeptieren zu Hause keine Regeln mehr. Dann kann es helfen, eine gewisse Distanz zu schaffen, einen Neustart zu ermöglichen – mit professioneller Begleitung.“

Es ist keine Schwäche, sich Hilfe zu suchen

Das Wort „Heim“ findet Cordula Breining „ganz schrecklich“. Viele Menschen hätten immer noch ein falsches Bild im Kopf, wenn sie an Jugendhilfe denken. „Hier gibt es keine Gitter an den Fenstern“, sagt sie schmunzelnd, „es sieht aus wie ein ganz normales Haus und die Zimmer werden nicht verriegelt.“ Wohngruppen sind schlichtweg Orte, an denen junge Menschen Unterstützung finden – aus ganz unterschiedlichen Gründen. „Ich würde mir wünschen, dass es irgendwann genauso normal ist zu sagen: ‚Ich wohne in einer Wohngruppe‘ wie ‚Ich wohne in einer WG‘.“

Auch Eltern sollten keine Schuldgefühle haben, wenn sie sich Hilfe vom Jugendamt holen. „Es ist keine Schwäche, sondern eine verantwortungsbewusste Entscheidung zu sagen: ‚Ich schaffe es gerade nicht alleine, ich brauche Unterstützung zum Wohle meines Kindes.‘“

Die Zimmer sind leer. Die Mädchen sind gerade mit einer Mitarbeiterin zum Einkaufen gegangen, sagt Breining. Es ist geplant, gemeinsam zu kochen. Draußen im Vorgarten summen Bienen, das Licht der späten Nachmittagssonne taucht alles in goldene Farben. Es ist ruhig – für manche der Mädchen zum ersten Mal seit langem.

Kurzfristiger Schutz für Kinder und Jugendliche in Krisensituationen

Inobhutnahme
Eine sogenannte Inobhutnahme ist eine kurzfristige Schutzmaßnahme, wie sie das Sozialgesetzbuch (SGB) vorsieht. Sie erfolgt, wenn ein Kind oder Jugendlicher sich in einer akuten Krise befindet, etwa durch Gefährdung zu Hause, Misshandlung, Vernachlässigung oder eigene Notlagen. Das Jugendamt bringt die betroffene Person vorübergehend an einem sicheren Ort unter und klärt in dieser Zeit die weitere Perspektive.

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