Gerlinde Wicke-Naber, 24.08.2021 – 18:00 Uhr
Etliche Afghanen sind vor einigen Jahren als Minderjährige ins Waldhaus Hildrizhausen gekommen. Mittlerweile sind sie erwachsen und gut integriert. Doch der Schrecken aus der Heimat holt sie nun wieder ein: Sie sorgen sie sich um ihre Familien in Afghanistan.

Sindelfingen/Leonberg – Ali Sher schläft schlecht. Seit zwei Wochen hält ihn nachts die Sorge um seine Familie wach. Auch tagsüber quälen ihn die Gedanken an Eltern und Geschwister in Kabul. „Du bist so ernst. Warum lachst du nicht mit uns?“, fragen ihn seine Kollegen im Marriott-Hotel in Sindelfingen. Für diese geht das Leben normal weiter. Für Ali Sher jedoch ist seit dem Einmarsch der Taliban in der afghanischen Hauptstadt nichts mehr wie zuvor.
„Mein Vater hat früher für die amerikanische Armee gearbeitet“, erzählt der 21-Jährige. Keine geheimen Missionen, kein Militärdienst. Ali Sher Vater war ein einfacher Lagerarbeiter. Doch das reichte, um auf die Liste der Taliban zu kommen. Auch Ali Sher selbst hatte damals Probleme. Gerade 15 Jahre war er alt, jobbte mit seinem Vater zusammen ein wenig im Schuhlager der Amerikaner. „Da wurde ich mehrfach auf der Straße bedroht“, erzählt der junge Mann.
Mit 15 Jahren allein zu Fuß nach Deutschland
Seine Familie wollte den damals einzigen Sohn in Sicherheit bringen und schickte ihn nach Europa. Mit einem gewaltigen Fußmarsch gelangte Ali Sher Anfang 2015 nach Deutschland. Im Waldhaus Hildrizhausen fand er eine neue Heimat. Er gehört zu denen, die es geschafft haben. Seine Integration ist gelungen. Seine ehemaligen Betreuer sind stolz auf ihn. Ali Sher machte den Hauptschulabschluss und dann eine Ausbildung zur Fachkraft im Gastgewerbe. Diese hat er so gut wie abgeschlossen. „Ich habe alle Prüfungen bestanden, nur Mathe muss ich wiederholen“, sagt der mittlerweile 21-Jährige. Eigentlich müsste er jetzt dafür lernen. Doch die Konzentration auf den Lernstoff bringt er kaum auf. Die Sorge um seine Familie lastet schwer auf ihm.
„Einen meiner Onkels haben die Taliban schon abgeholt, aus seiner Wohnung“, erzählt Ali Sher. Auch er stand auf der Liste von Kollaborateuren. Eine Möglichkeit zum Flughafen zu gelangen, sähe seine Familie nicht, sagt Ali Sher. „Da sind überall Straßenkontrollen. Da kommt man nicht durch.“ Ein weiteres Problem: Sein Vater habe bereits vor Jahren alle Papiere verbrannt, die eine Tätigkeit für die Amerikaner belegen könnten. Aus Angst, die Taliban könnten diese finden. Deshalb kann er jetzt nicht beweisen, dass er einst Mitarbeiter war und Anspruch auf Evakuierung hat.
Die Angst, von den Taliban aufgespürt zu werden, ist allgegenwärtig
Angst, dass die Taliban an die Tür klopfen
So sitzt die Familie, zu der vier jüngere Schwestern sowie ein fünfjähriger Bruder gehören, der geboren wurde, nachdem Ali Sher bereits in Deutschland war, den ganzen Tag in der Wohnung und hoffen, dass niemand an die Türe klopft.
350 Kilometer sind es bis zur Grenze nach Pakistan – für eine mögliche Flucht. Ein gefährlicher Weg. Zudem sind die Grenzen im Moment dicht. Trotzdem hofft Ali Sher, dass seiner Familie irgendwie die Flucht gelingt. Er versucht, dafür in Deutschland Geld aufzutreiben.
Angst um seine Eltern und Geschwister in Afghanistan hat auch Jawid T. Seine Familie lebt in Masar-e Scharif, dort, wo die Bundeswehr stationiert war. Seine Familie hatte keinen Kontakt zu den Soldaten. Trotzdem fürchtet Jawid T. um ihre Sicherheit. „Wenn die Taliban erfahren, dass ich in Deutschland bin, wird es für meine Familie gefährlich“, sagt der 23-Jährige. Auch er kam vor sechs Jahren als Minderjähriger ins Waldhaus im Kreis Böblingen. Aus Angst, dass die Taliban ihren Sohn einziehen, hatten die Eltern ihn losgeschickt. Jawid T. hat seinen Weg in Deutschland gemacht: Er hat einen Job beim Daimler, eine Wohnung in Leonberg. Es geht ihm gut. Doch besser ginge es ihm, wenn er auch seine Familie in Sicherheit wüsste. https://www.krzbb.de/inhalt.afghanen-in-boeblingen-einen-onkel-haben-die-taliban-geholt.8d96e2db-db2f-456b-9c1a-67ad0390703c.html