Es brennt immer irgendwo
Das kreative Team mit Werner „Roy“ Bien (l.), Birgit Egenter (2.v.l.), Vanessa Frey (3.v.l.) und Norbert Fasching (2.v.r.) hat die Erfolgsgeschichten des Waldhauses zusammengetragen – Bei einer Talkrunde haben Romana Gostecnik (rosa Pulli), Werner Koch (hinten, weißes Sweatshirt und Michael Lambert (kariertes Hemd) mit Moderator Wolfgang Trede (r.), Jugendamtsleiter des Landkreises Böblingen, ihren Lebensweg bei der Mitarbeiterversammlung in der Hildrizhauser Schönbuchhalle Revue passieren lassen Foto: Sandra Schumacher
Unter dem Titel „Es brennt immer irgendwo“ hat die Waldhaus Jugendhilfe Hildrizhausen ein Buch herausgebracht, in dem ehemalige Betreute von ihrem Lebensweg berichten. Bei der Mitarbeiterversammlung am Freitag wurde das Werk vorgestellt. Es beinhaltet Erfolgsgeschichten, die bewegen.
Von Sandra Schumacher, Kreiszeitung Böblinger Bote, 01. April 2019
HILDRIZHAUSEN. Wir schreiben das Jahr 1974. Werner Koch ist 14 Jahre alt, als er aus seinem Elternhaus ausbüxt, weil sein Vater ihn geschlagen hat. Die Flucht des Jugendlichen endet zunächst auf der Polizeistation in Schwenningen. Zurück kann der junge Mann nicht, deswegen soll er ab sofort in der Wohngruppe der Waldhaus Jugendhilfe in Hildrizhausen unterkommen. Hans Artschwager senior, Chef und Gründer des Waldhauses, holt ihn persönlich ab. „Eine der ersten Fragen, die er mir gestellt hat, war, ob ich Handball spiele“, erinnert sich Koch mit einem Schmunzeln. Nein, er spiele Fußball. „Das bekommen wir auch noch hin“, habe Artschwager geantwortet, erinnert sich Koch mit einem Schmunzeln. Trotz fehlender Handball-Kenntnisse lebt sich der damals 14-Jährige am Rande des Schönbuchs in sein neues Heim ein – mit einigen Startschwierigkeiten.
„Ich war vielleicht eine Woche da, da hatte ich schon mein erstes blaues Auge. Man musste sich schon durchsetzen können“, erzählt Koch ohne sich dabei zu beschweren. „Wir hatten eine unglaubliche Freiheit, konnten alles tun, was wir wollten. Ich kannte vorher ja nur Druck und Schläge.“ Mit seinen Betreuern aus dem Waldhaus habe er hingegen eine „coole“ Zeit verlebt. „Die waren ziemlich locker, haben mit uns auch mal was getrunken oder zusammen geraucht“, berichtet Koch. Vor allem die Urlaube beispielsweise nach Spanien oder Italien seien ihm in bester Erinnerung geblieben. Und natürlich die sportlichen Aktivitäten, die im Waldhaus eine besondere Rolle gespielt haben. „Dadurch haben wir auch andere Leute aus der Umgebung kennengelernt.“ Beispielsweise seine heutige Ehefrau, mit der er in Hildrizhausen eine Familie gründete, wo er auch heute noch lebt.
Geschichten wie diese schreibt die Waldhaus Jugendhilfe mittlerweile seit 62 Jahren. Heute kümmern sich über 200 Mitarbeiter um die Belange der Jugendlichen und decken die Bereiche stationäre und ambulante Hilfe, Jugendberufshilfe sowie kommunale Jugendsozialarbeit ab. Grund genug, einen Teil der „Erfolgsgeschichten“ in einem Buch festzuhalten, das nun unter dem Titel „Es brennt immer irgendwo“ erschienen ist. Auf insgesamt 115 Seiten finden sich neben Grußworten aus der Politik und einem historischen Abriss vor allem viele Anekdoten derjenigen, denen das Waldhaus Unterstützung bot.
So beispielsweise auch von Michael Lambert. Dieser wird im hessischen Elm als eines von insgesamt 14 Kindern geboren. Sein Vater ist starker Alkoholiker, sodass es immer wieder zu heftigen Konflikten innerhalb der Familie kommt. 1963 muss der junge Mann von Zuhause fort, kommt über Frankfurt ins Jugendheim nach Sinsheim, wo ihn Hans Artschwager senior persönlich abholt. Gleich in der ersten Nacht büxt Lambert mit einem weiteren Jugendlichen in Richtung Konstanz aus, erst nach 14 Tagen bringt ihn Hans Artschwager senior zurück. „Ich wollte nicht eingeschlossen sein, ich wollte selbst bestimmen, wann ich kommen und gehen darf“, sagt Lambert. Die Betreuer kümmern sich sorgsam um den Jugendlichen und bringen ihn in einer Wohngruppe unter, die im Zentrum Hildrizhausens entsteht. Und integrieren ihn schnell in die Arbeitswelt. „Hans Artschwager senior ist damals sämtliche örtlichen Betriebe mit mir abgefahren und ich wurde auch schnell von einer Schreinerei in Hildrizhausen genommen.“ Nach der Ausbildung geht er zur Bundeswehr, kehrt im Anschluss aber nach Hildrizhausen zurück, gründet eine Familie und engagiert sich im Ort. Seit 49 Jahren gehört er mittlerweile der Freiwilligen Feuerwehr an. Heute leitet er die Altersabteilung.
„Die Erfolgsgeschichten des Waldhauses werden insbesondere von den Mitarbeitern geschrieben, die sich kümmern und Kinder, Jugendliche und Familien in ihrem sozialen Umfeld stärken“, lobt Rolf Schumacher, Ministerialdirigent im Sozialministerium Baden-Württemberg, die wertvolle Arbeit des Waldhauses. „Sie alle machen einen tollen Job“, bringt es Hildrizhausens Bürgermeister Matthias Schöck auf den Punkt. Während zu Anfangszeiten des Waldhauses noch von den „bösen Buben am Waldrand“ gesprochen worden sei, habe sich dieser Ruf mittlerweile zum positiven gewandelt. Vielmehr sei das Waldhaus eine besondere Einrichtung, deren vielfältige Angebote für die Gesellschaft nicht hoch genug eingeschätzt werden könne.
Beispielsweise auch im Bereich der Jugendberufshilfe, mit deren Hilfe Romana Gostecnik auf ihrem Lebensweg wieder in die Spur fand. Romana wird in Slowenien geboren, wächst aber im Kreis Böblingen auf, macht hier ihren Hauptschulabschluss und ab 1985 ihre Lehre zur Hotelfachfrau. Weil ihr der Job aber nicht zusagt, macht sie eine Umschulung zur Bauzeichnerin. Auch diese Arbeit gestaltet sich nicht so, wie sie es sich vorgestellt hat. Zwischen 2000 und 2015 verdingt sie sich als Leiharbeiterin in verschiedenen Unternehmen, bevor sie 2014 arbeitslos wird. „Ich war am Ende“, sagt sie. „Und ich wollte endlich richtigen Boden fassen und wieder an der Gesellschaft teilnehmen.“
„Plötzlich durfte ich Verantwortung für Menschen übernehmen“
Ihr Sachbearbeiter beim Jobcenter empfiehlt ihr, an dem Projekt „Netzwerk 33“ des Jugendberufshilfezentrums in Herrenberg teilzunehmen. „Für mich war damals schon klar, dass ich Busfahrerin werden wollte“, erzählt sie. Schon während der ersten Fahrstunde spürt sie, dass sie endlich am Ziel angekommen ist. „Plötzlich durfte ich die Verantwortung für Menschen übernehmen, während ich sie von A nach B gebracht habe. Das war ein totales Wow-Gefühl. Das hatte ich bei meinen bisherigen Jobs vermisst.“ Im vergangenen Jahr bestand sie ihre Fahrprüfung, heute ist sie bei einer Firma in Deckenpfronn angestellt. „Ich bin einfach nur happy“, sagt sie und strahlt übers ganze Gesicht.
Schicksalsschläge wie die, die Werner Koch, Michael Lambert und Romana Gostecnik hinter sich haben, sind keine Seltenheit in Deutschland. Die Geschichten darüber, wie sie zurück ins Leben gefunden haben, können von nun an anderen Betroffenen als Beispiel dienen.
Das Buch „Es brennt immer irgendwo“ liegt kostenlos in der Verwaltung der Waldhaus Jugendhilfe aus. Die Geschichten verfasst hat Pressereferentin Vanessa Frey, für die Gestaltung zeichneten sich Werner „Roy“ Bien und Birgit Egenter verantwortlich. Das Lektorat übernahm Norbert Fasching. |