Wenn Angst den Schulbesuch unmöglich macht

Kreiszeitung Böblinger Bote von Robert Krülle, 18.01.2023
Seit der Coronapandemie verweigern immer mehr Kinder und Jugendliche den Unterricht. Meistens sind Ängste der Grund. Die Sozialpädagogen kommen derzeit kaum hinterher.
Schon gegen Ende seiner Grundschulzeit tat sich Leon sehr schwer. Mit dem ersten Corona-Lockdown war der Junge wie vom Unterricht abgeschnitten, später ging er nur jeden zweiten Tag hin. Die Folge: massive Lerndefizite und ständige Misserfolge. Nach dem Übergang in die fünfte Klasse wurde der Schulbesuch geradezu unmöglich. Allein die Vorstellung, die Wohnung zu verlassen, sorgte bei Leon für heftige Bauchkrämpfe und viele Tränen. Der Zehnjährige war ängstlich und offenbar überfordert – was tun?
Der Fall von Leon ist nur ein Beispiel von vielen. Seit der Coronapandemie ist die Zahl der Kinder, die die Schule verweigern, deutlich gestiegen. Depressionen und Ängste haben zugenommen, manche trauen sich nicht mehr in den Unterricht. Da sind Eltern, Lehrer, Rektoren schnell überfordert. Daher gibt es für extreme Fälle im Landkreis Böblingen das Projekt Trias, bei dem sich Sozialpädagogen diesen Kindern und ihrem Umfeld individuell annehmen und nach Lösungen suchen.
Zahl der Anfragen verdoppelt sich binnen zwei Jahren
Von 2020 bis 2022 hat sich die Zahl der Anfragen bei Trias verdoppelt auf zuletzt 110 Fälle. Längst kommt das Angebot quantitativ an seine Grenzen. „Unsere Warteliste ist leider lang“, sagt Katrin Dreher vom Waldhaus in Hildrizhausen. Die 53-Jährige ist bei Trias dabei, seit das Projekt 2006 gestartet ist. Und Arbeit gibt es mehr als genug.
Nicht wenige Schüler haben mit den Corona-Lockdowns den Anschluss verloren – sowohl beim Unterricht als auch sozial. „Da haben sich oft Ängste entwickelt“, weiß Katrin Dreher, „manche haben sich kaum mehr vor die Tür getraut.“ Die Folgen spüren natürlich auch die Schulen. Verhaltensauffälligkeiten und Aggressionen haben zugenommen, zudem gibt es deutlich mehr Schulverweigerer. „Dass sie einfach nur keinen Bock haben, kommt so gut wie nie vor“, berichtet die Sozialpädagogin, „da steckt eigentlich immer ein Hilferuf dahinter.“
Wenn die Kinder den Unterricht kategorisch verweigern, wissen die Eltern meistens keinen Rat. Auch wenn es inzwischen an nahezu allen Schulen Sozialarbeiter gibt, können diese sich um Einzelfälle nicht so intensiv kümmern. Den Familien hilft es dann auch nicht, wenn obendrauf ein Bußgeldbescheid wegen Schulschwänzerei ins Haus flattert. Früher war das Jugendamt dann die nächste Instanz – die Schwelle, sich dorthin zu wenden, aber hoch. Seit 2006 können sich die Trias-Pädagogen im Kreis Böblingen dazwischenschalten und den Weg zurück in die Schule moderieren.
Frühes Eingreifen ist wichtig
„Die Arbeit braucht einen langen Atem“, sagt Katrin Dreher, „führt aber meistens zum Erfolg.“ Mehr als 80 Prozent der betreuten Schüler seien dank Trias wieder beständig in den Unterricht gegangen. „Es ist sehr viel Beziehungsarbeit notwendig, die Schüler müssen sich uns anvertrauen“, berichtet die 53-Jährige. Über viele Gespräche mit den Kindern und Jugendlichen, den Eltern und der Schule versuchen die Pädagogen zu erkennen, welche Maßnahmen helfen können. Wovor hat der Schüler Angst? Wie kann man ihn unterstützen? „Die Begleitung kann rund ein Jahr dauern“, sagt Dreher, „wobei es wichtig ist, möglichst früh einzugreifen.“ Je länger die Kinder und Jugendlichen bereits von der Schule weggeblieben sind, desto schwieriger werde die Rückkehr.
„Ein großes Plus von Trias ist die Niederschwelligkeit“, ergänzt Uwe Seitz, der das Projekt einst mitaufgebaut hat und inzwischen als Fachbereichsleiter beim Waldhaus eine größere Abteilung verantwortet, „wir können bei Problemen direkt kontaktiert werden.“ Die Schulen seien bei diesem Thema allerdings anfangs skeptisch gewesen. „So was gibt’s bei uns nicht!“, habe es oft geheißen. „Manches Kind hatte zwar oft Bauchschmerzen, aber es hat sich halt keiner darum gekümmert, der Sache auf den Grund zu gehen“, so Seitz.
Doch mit den Jahren wuchs die Akzeptanz und die Einsicht, dass der Einsatz der Trias-Pädagogen sinnvoll und wichtig ist – um den Kindern einen Weg zurück in die Schule zu ebnen, aber auch, um die anderen Beteiligten zu entlasten. Parallel entwickelte sich das Feld der Schulsozialarbeit enorm weiter, die inzwischen zum allgemeinen Standard gehört. Zu Beginn richtete sich Trias nur an Hauptschüler, doch 2014 wurde das Projekt auf alle Schularten ausgeweitet. Wobei in jenem Jahr auch die EU-Startförderung wegfiel, was die Kapazitäten deutlich ausdünnte. Seitdem trägt der Landkreis das Projekt, der Kreistag hat erst zuletzt weitere Betreuungsplätze genehmigt. Was den gestiegenen Bedarf aber nicht decken kann.
Ein heikles Thema an der Schule ist und bleibt Mobbing – ein Grund, warum sich Schüler häufig nicht mehr in ihre Klasse trauen. Greifen Maßnahmen wie ein Gruppentraining in der Klasse nicht, bleibt dem Opfer oft nichts anderes übrig, als die Schule zu wechseln. „Das ist zwar hart, kann aber in der Praxis sehr helfen“, weiß Katrin Dreher. Wenn sich das Mobbing hingegen ganz klar auf ganz bestimmte Täter zurückführen lässt, müsse die Schule entsprechend reagieren. „Wir haben schon Gruppentrainings abgelehnt, weil eindeutig war, wer für das Mobbing allein verantwortlich ist“, berichtet Uwe Seitz, „häufig ist das aber nicht so klar.“
Runder Tisch mit allen Beteiligten
Im Fall von Leon vermittelten die Trias-Betreuer einen Termin bei der Schulpsychologischen Beratungsstelle. Zudem wurde ein Runder Tisch mit allen Beteiligten sowie der Schulleitung angesetzt. Der Klassenlehrer schickte Leon kleine Lernpakete nach Hause, die der Junge mit den Eltern oder der Trias-Fachkraft erledigte. Zudem besuchten die Pädagogen die Schule gemeinsam mit Leon außerhalb der Unterrichtszeiten. Und tatsächlich wurden seine Ängste nach und nach weniger – und schließlich ging er wieder in seine Klasse. Letztlich also ein Beispiel für die erfolgreiche Arbeit der Trias-Pädagogen.
Trias hilft bei allen Schularten
Entstehung
Mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) startet Trias 2006 im Landkreis Böblingen. Bis 2014 sind 51 Betreuungsplätze finanziert, wobei eine Pädagogische Fachkraft 15 Betroffene begleitet.
Entwicklung
Mit dem Ende der ESF-Finanzierung 2014 übernimmt der Landkreis, kann das Niveau aber nicht halten. Zunächst sind 15 Betreuungsplätze finanziert, seit 2017 wird auf 26 Plätze erhöht. Derzeit steht die Entscheidung des Kreistages im Raum, auf 32 Plätze zu erweitern.
Klientel
Bis 2014 galt die Aufmerksamkeit von Trias nur Hauptschülern, dann wurde das Angebot auf alle Schularten ausgeweitet. Denn es gibt keinen Schwerpunkt bei einer bestimmten Altersgruppe oder Schulart.
Träger
Das Waldhaus, der Verein für Jugendhilfe und die Stiftung Jugendhilfe aktiv teilen sich bei Trias den Landkreis Böblingen regional auf.